Cop by R Jahn

Cop by R Jahn

Autor:R Jahn [Jahn, R]
Die sprache: deu
Format: mobi
veröffentlicht: 2012-06-12T22:00:00+00:00


Man stelle sich vor: ein ruhiges Meer, schwarz wie Öl. Von Horizont zu Horizont nichts als flaches, ödes Wasser. Ein ganzer Planet aus finsterer, flüssiger Mitternacht, beleuchtet von einem Mond, der wie eine Silbermünze am Himmel steht, und dazu ein paar Sterne. Sonst nichts. Keine Inseln, keine Bäume. Keine Fische, keine Wale. Nur die tote Stille. Nur der eine Mann, der in der Mitte der Dunkelheit auf dem Rücken im Wasser treibt, Arme und Beine ausgestreckt wie da Vincis vitruvianischer Mensch: Ian. Ian inmitten des Nichts. Seine Augen sind geöffnet, er starrt in die Höhe, auf der Suche nach Gott, doch er findet – nichts. Er hört nichts als die Stimme des dunklen Raums zwischen den Sternen, ein hohler Ruf, der Wüstenwind des Alls.

Da berührt ihn etwas an der linken Hand. Jemand. Ein Mensch. Er ist nicht allein. Ian versucht, den Kopf zu drehen. Vergeblich. Jemand streicht ihm über das zarte Gewebe zwischen Daumen und Zeigefinger.

Er versteht nicht, warum er den Kopf nicht bewegen kann.

Mach die Augen auf.

Sind sie nicht schon offen? Schließlich sieht er die Silbermünze am Himmel, die Stecknadelköpfe der Sterne.

Mach die Augen auf.

Er öffnet die Augen. Der Nachthimmel weicht einer weißen Decke, erst verschwommen und weich, dann gewinnt das Bild an Schärfe. Er zwinkert, einmal, zweimal, dreimal. Wieder versucht er, den Kopf zu drehen. Diesmal gelingt es ihm.

Debbie blickt auf. Ihr Kinn war auf die Brust gesunken, aber jetzt sieht sie ihn an. Ihr Gesicht wirkt schmal. Sie sieht müde aus, und alt. Zum ersten Mal findet er sie alt. Vielleicht weil sie kein Make-up aufgelegt hat – ihre Augen sind gerötet, die Haut ihrer Wangen ist fleckig und grau, die Mundwinkel sind herabgezogen.

»Hi«, flüstert er.

Hat sie ihn überhaupt gehört? Zuerst reagiert sie nicht; sie betrachtet ihn und schweigt. Bis sie sich mit dem Handrücken über die rote, wundgeheulte Nase wischt und sagt: »Bill ist tot.«

»Es tut mir leid.«

Ian muss husten. Ein merkwürdiges Gefühl, als würde er versuchen, unter Wasser zu atmen. Und er kann nicht mehr aufhören zu husten. Wahrscheinlich müsste er Schleim oder sonst was hochwürgen, aber es klappt nicht, es kommt nichts raus. Seine Muskeln verkrampfen sich. Schmerz schießt ihm von dem kieselsteingroßen Punkt, wo die Kugel ihn geküsst hat, in alle Glieder. Gleichzeitig hört er ein seltsames Schmatzen aus dem dünnen Tuch über seinem Oberkörper. Er hebt das Laken an – eine durchsichtige Röhre, ein Katheter vom Durchmesser eines zierlichen Daumens, ist knapp unter der Achsel mit ein paar Stichen in die Brust genäht. Die Haut schließt sich um das Plastik wie Lippen um einen Strohhalm, eine außerirdische Tulpe aus Fleisch und Kunststoff, während sich eine pinke Flüssigkeit, ein Gemisch aus Blut und Eiter, durch den Schlauch zu einem kleinen Kasten auf dem Boden schiebt. Gerade verschwindet ein dicker Klumpen in dem Gerät mit der Aufschrift PLEUR-EVAC.

Bei jedem Hustenstoß fließt ein bisschen rosa Masse aus der Brust in die Röhre. Aber das Schlimmste ist der Schmerz, der Schmerz bei jedem einzelnen Atemzug.

»Scheiße«, sagt er, als er endlich wieder Luft bekommt.

»Du hast eine Kugel abbekommen.



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